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Konzertbericht: "Nürnberg" live in Berlin (13.09.24)

  • Autorenbild: djjolly
    djjolly
  • 14. Sept. 2024
  • 5 Min. Lesezeit


Ein frischer Septembertag in Berlin. Es ist Freitag, der 13.

 

19 Uhr 15.

Ich bin zeitig dran. Heute gastiert das Postpunk-Duo „Nürnberg“ in der ausverkauften Kantine am Berghain in Ostberlin. Laut meinen Recherchen ein Nebengebäude des berühmtesten Techno-Clubs der Welt. In Postpunk-Kreisen ist die Kantine am Berghain nicht ganz unbekannt, u.a. gaben hier auch schon „Ist Ist“ zwei Mal ein Gastspiel. Doch das Auffinden der Location erweist sich als große Herausforderung. Von sämtlichen Richtungen kommen schwarz gekleidete Menschen auf mich zu. Was sie mit mir sonst noch vereint: Das Handy in der Hand mit „Google Maps“. Und immer wieder die obligatorische Frage: „Weißt Du, wo es zur Kantine am Berghain geht ?“

Man läuft an Mauern und Zäune entlang ohne Eingänge. Irgendwo dahinter soll sich die ominöse Kantine befinden. Inzwischen sind wir zu einer kleinen, aber verzweifelten Gruppe herangewachsen. Schließlich ist das Areal Wriezener Karree am Wriezener Bahnhof doch recht weitläufig mit vielen kleinen kultigen Betonklötzen.

Endlich. Vor einem Eingang warten etwa 20 vorwiegend schwarz gekleidete Personen. Hier müsste es sein.

 

19 Uhr 40.

Ich frage den Türsteher höflich, ob dies hier die „Kantine am Berghain“ sei. Der gute Mann ist der deutschen Sprache nicht sehr mächtig, erklärt mir aber auf englisch, dass ich schon richtig sei, aber es sei noch kein Einlass. Ich wundere mich etwas, da die Einlasszeit auf 19 Uhr gesetzt war.

Doch um 19 Uhr 50 dann öffnen sich die Pforten. Ich erkläre dem Türsteher, dass für mich eine Akkreditierung vorliegt. Er verweist mich freundlich an eine Empfangsdame, die vor einem großen Schild namens „Guest List“ ein paar Leute vor mir abfertigt.

„Jolly von Hayde, ich müsste auf der Liste der Akkreditierungen stehen.“

„Wie war der Name ?“„Jolly von Hayde – Stuttgart Schwarz.“

„Moment. Aaah ja, da haben wir Sie ja.“

Ich bekomme ein weißes Bändchen, auf welchem „VIP“ steht. Ungewöhnlich für Konzerte dieser Größenordnung, aber warum auch nicht…?

„Hier bitte nach links, Treppe hoch.“ Die Dame drückt mir einen Flyer in die Hand, den ich gleich in meine Jackentasche stecke.



Ich bedanke mich artig und begebe mich nach oben in Erwartung des Konzertsaals. Irritiert blicke ich mich um. Gruselgeräusche dröhnen aus Lautsprechern. Ein interaktiv-audiovisuelles TamTam tut sich vor mir auf mit dutzender Screens und Menschen in Warteschlangen, die sie bedienen. Ich gehe durch die Räumlichkeit, suche eine Bühne. Vergeblich. Irgendwas ist hier faul…

 


19 Uhr 55.

Ich begebe mich wieder auf den Weg nach unten.

„Ach, Entschuldigen Sie, ist da oben wirklich das Konzert ?“

„Jaja, ab 20 Uhr, haben Sie noch etwas Geduld.“

„Wie soll das denn da stattfinden, also funktionieren ?“„Ich darf nicht zu viel verraten. Lassen Sie sich überraschen.“

Also gehe ich wieder die Treppe hoch…

 



20 Uhr

Der Raum oben füllt sich. Eine Stimme aus den Lautsprechern labert etwas von „Body“, „Mind“ und „Soul“. Ich versuche zu begreifen, was hier gerade eigentlich geschieht. Neben mir versammeln sich ein paar Inder mit Turbanen und ein paar Esoterik-Tanten und starren andächtig auf die skurrilen Animationen der Megascreens. Ich bleibe dabei: Irgendwas ist hier faul…

Ich zücke den Flyer aus meiner Jackentasche und lese: „Welcome to Danielle Brathwaite-Shirleys ‚THE SOUNL STATION‘.“ Die weibliche, zugedröhnt wirkende Stimme aus dem Boxen rät mir: „Feel your Body. Feel your Mind. Close your Eyes.“…

 

20 Uhr 15.

Treppe wieder runter.

„Entschuldigen Sie die nochmalige Störung. Sie sind sich sicher, dass hier oben das Konzert von NÜRNBERG in der KANTINE AM BERGHAIN stattfindet ?“

„Oh nein, mit dem Berghain haben wir gar nichts am Hut. Sie sind hier bei „The Soul Station“.

Natürlich weise ich darauf hin, dass man mir mehrmals versichert habe, dass ich hier richtig sei und schließlich habe ich ja auch wohl auf der Gästeliste gestanden und dieses VIP-Bändchen bekommen. Da kann ja jeder aus dem Wald kommen und sagen, er sei der Förster !

Ja, das muss sich wohl alles als ein großes Missverständnis handeln, bedauerte die Dame. Begleitete mich aber dann durch den Berliner Regen zur tatsächlichen „Kantine am Berghain“. Wir laufen durch verwinkelte Gänge über das Kopfsteinpflaster, vorbei an der Warteschlange vor dem „lab.oratory“, Berlins berüchtigsten Fickschuppen für Gays. Ich überlege kurz, ob ich… Nein, ich gehe doch lieber auf das Konzert.

 



20 Uhr 25

Ich stehe am Eingang. Auf einem Schild wird auf das ausverkaufte Konzert hingewiesen. Es ist der Moment, an welchem ich seit 20 Jahren fürchte, dass man mir auf meinen Akkreditierungshinweis antwortet: „No, Sie stehen nicht auf der Liste“. Ist aber noch nie so eingetreten. Bis zu diesem 13. September…

Diskussionen am Eingang. Ich nenne den Namen meines Ansprechpartners der zuständigen Konzertagentur. Einen Moment, bitte. Ein Telefonat zwischen dem Mann an der Kasse und einem Julian, dann das Okay – Ich kann rein. Er will wissen, warum ich so spät komme. Ich erzähle ihm Geschichten über Body, Mind, Soul und Esoterik-Tanten. „Na, da haste Dir mal ganz raffiniert ein VIP-Ticket dafür ergaunert, wa ?“ Der Mann zwinkert mir zu. Ich trete näher, schaue ihm in die Augen, ziehe die Augenbrauen hoch und entgegne ihm: „Schon mal ‚ner alten Frau über die Straße geholfen, die gar nicht auf die andere Straßenseite will ?“ Er überlegt kurz, dann lacht er und sagt: „Viel Spaß, mein Freund.“

 



20 Uhr 35.

Der Support Act „Disaster Fatigue“ ist noch in vollem Gange. Musikalisch definiert als „zwischen Dark Punk und Pop, Elektronik und Akustik, Tanz und Verzweiflung“ klingen die Songs wirklich gar nicht übel und eignen sich für’s Hören zu Hause oder zum Spielen in Clubs. Die Performance: Ein Sänger und ein Laptop, der die komplette Musik aus der Konserve dazu abspielt. Das fällt wahrlich nicht unter die Kategorie „Sternstunden besonderer Live-Erlebnisse“. Über Sinn und Unsinn solcher One-Man-Karaoke-Shows darf freilich diskutiert werden. Doch die Songs des Berliners kommen dennoch gut an !

 

21:00 Uhr

Die Umbaupause fällt kurz aus. Fast unbemerkt schreiten Jury (Gesang, Bass) und Aleh (Gitarre) auf die Bühne, testen kurz ihre Gitarren und dann geht es auch schon los. „Guten Abend, Berlin“ begrüßt Jury in charmantem osteuropäischen Akzent die Berliner Fans, welche die Belarussen begeistert nach dem ersten Song feiern. Im Gepäck haben die Minsker freilich Songs aus ihrem brandneuen Album „Akdaz“ (Antwort). Wie schon die Vorgängerwerke mal düster-melancholisch, mal treibend und ganz im Stile von „Joy Division“ oder den Frühwerken der „Sisters of Mercy“. Postpunk ohne Schnörkel und Lametta in seiner Reinform ! Die Frage, was Nürnberg so besonders macht und von den inzwischen zahllos anderen „neuen“ Postpunk-Bands unterscheidet, wird bei diesem Konzert beantwortet. Denn Jury verfügt über Gold in der Kehle ! Wohl mit viel Hall unterlegt, entfaltet seine Stimme dennoch ihre ganze Kraft und gerade die längeren Töne schmettern durch die Kantine und begeistern das Publikum. Auf Deutsch gibt es ab und zu ein „Danke schön“ nach den songs. Während Aleh eher statisch und im Hintergrund agiert, zeigt sich Jury mit seinem Bass bemüht beweglich und tigert immer wieder auf der Bühne auf und ab.



Die Arbeit der Band sei „beeinflusst von post-sowjetischen Städten, Depression, Existenzialismus, sozialen Problemen in der modernen industriellen Welt, Druck und Müdigkeit, aber auch von einigen essentiellen Gefühlen, die uns menschlicher machen - die Fähigkeit zu lieben und Mitgefühl zu empfinden.“ Diesem Anspruch wird das Duo an diesem Abend absolut gerecht, wenngleich sich die Belarussen an diesem regnerischen, tristen Septemberabend zwischen Ostberliner Betonblöcke eigentlich ganz wie zu Hause gefühlt haben dürften.

Es war erst das zweite von fast 30 Konzerten der Europatournee, die tags zuvor in Poznan (Polen) startete. Nach rund 80 Minuten endete ein Konzert mit älteren und neuen songs, welches ein zufriedenes Berliner Publikum nach Hause entließ. Der Weg Richtung Ostbahnhof war dann auch einfacher zu finden als der Hinweg.


Für Stuttgart Schwarz: Jolly von Hayde

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